Wenn der Digital-Pate spricht

Digitale Picassos und das erste Interneterlebnis in Begleitung von israelischen Bodyguards – Martin Radelfingers Leben ist vielseitiger als manche Website.

Von analog zu digital

Bob Marley tönt aus den Boxen des klassischen Porsche 911 Targa, der über den Julierpass ins Engadin kurvt. Die «Compact Disc Digital Audio», kurz CD, im Player im Kofferraum wurde noch nie gewechselt. Am Steuer sitzt Martin Radelfinger und er fährt vorbei an leicht verschneiten Landschaften und orange leuchtenden Nadelbäumen. Immer dann, wenn die Räder des Oldtimers über groben Belag rollen, beginnt der Reggae-Musiker zu stottern. Ein seltenes Bespiel, wie die analoge Welt der digitalen ihre Grenzen aufzeigt.

Martin verschlägt es zu jeder Jahreszeit in das Bündner Hochtal. Die Sommer- und Wintersaison, die sich im Engadin sehr gegensätzlich zeigen, sind ein wahres Naturerlebnis. Im Winter wird das Tal mit seinen gefrorenen Seen zu einer riesigen weissen Fläche, die von den Bergketten wie ein Passepartout eingerahmt wird. Im Sommer steht das dunkle Blau der Seen im Kontrast zu dem intensiven Grün der Nadelbäume. Besonders der hinterste Fleck im Oberengadin hat es Martin angetan.

Vielleicht ist es die stetige Transformation, die Martin an der analogen wie auch an der digitalen Welt so fasziniert, so dass er sein ganzes Leben diesen beiden Sphären gewidmet hat.

Martin Radelfinger, 62, ist zuständig für Innovation und Business Development bei der Goldbach Group AG und Präsident des Verwaltungsrats der Digital-Marketing-Agentur dreifive. Immer an vorderster Front dabei, hat er die Zeitreise der digitalen Transformation hautnah miterlebt und geprägt.
Ein Bore-Out kommt für Martin nicht in Frage. Langeweile weicht innovativen Projekten in der Digitalwelt.

Die Gefahr eines Bore-Outs

Kurznachrichten erhielt Martin in seinen 20ern in New York noch auf seinem Beeper – der Siegeszug der Mobiltelefone stand noch aus. Mitten in der Weltstadt ein Treffen zu vereinbaren, war eine Herausforderung. Kurzfristige Absagen gab es nicht. Dann veränderte das Mobiltelefon auch Martins Welt – der Luxus der Unverbindlichkeit war da. Heute ist es wohl eher ein Privileg, kein Handy zu besitzen oder nicht immer erreichbar zu sein. Nicht aber für Martin: «Egal, ob Tag oder Nacht, ob in den Ferien oder am Weekend, ich bin gerne jederzeit erreichbar und verbunden», bekennt er überzeugend. Und anstatt, dass am Montagmorgen Hunderte von Mails und verpassten Telefonanrufenauf ihn lauern, checkt er diese lieber laufend ab. Ist er im Engadin, ist ein geschäftliches Telefon am Silsersee keine Ausnahme. Wieso nicht vor wunderschöner Kulisse einen Business-Deal abschliessen?

Vor Stress hat Martin keine Angst, vielmehr vor einem «Bore-Out». In Martins Lexikon ein Ausdruck für Langeweile, die in Resignation endet. So stellt sich Martin gerne konstant neuen Herausforderungen, die in puncto Innovation ihresgleichen suchen.

In Texas studiert, in Honduras Offiziere beraten, in New York das erste Werbebanner geschaltet – Martin hat sein digitales Know-how in die Schweiz transferiert.

Digitale Revolution im Handgepäck

Rückblende: Die Semesterferien stehen vor der Tür. Der 25-jährige Martin, der gerade am Bachelor in Radio, Television and Film in Austin an der University of Texas arbeitet, landet 1987 am kleinen Flughafen Belp bei Bern. Sein Handgepäck sticht dem wachsamen Schweizer Zöllner ins Auge. Zwischen Zahnbürste und Kleidung liegt da etwas ganz Aussergewöhnliches. Nach dem dritten Anlauf, dem aufgebrachten Zöllner zu erklären, dass es sich dabei um einen Personal Computer handelt und es sein Arbeitsgerät sei, gibt Martin auf. Der Zöllner ist sich sicher, dass Martin ihn zum Narren halten will. Keine Chance – er muss den vollen Importzoll zahlen. Es blieb nicht bei dem einem Mal: Auch wenn Martin über Weihnachten die Schweiz besuchte, begleiteten ihn «interessante» Gespräche am Schweizer Zoll.

Martin studierte in seinen jungen Jahren also genau zu jener Zeit in Amerika, als die digitale Revolution mit wehenden Fahnen vorwärtsschritt. Noch heute schwärmt er vom Communication Department der Universität: «Sie hatte eine Tageszeitung mit einer Auflage von 54’000, zwei vollausgestattete

Fernsehstudios, eine eigene Radiostation und sie war eine der ersten Unis, die Internetzugang hatten und ins Pilotprogramm von Apple kamen.» Grund dafür, dass es Martin nach seiner Optikerausbildung für fünf Jahre an den liberalen Fleck von Texas verschlug, war der Vater eines Freundes, der in Texas Theologie studiert hatte. Doch seine Zeit im warmen Texas war abgelaufen: Im akademischen Wahn fiel die Wahl für den anschliessenden Master auf Philadelphia. Sein Willkommensgeschenk war ein Pflasterstein durch das Seitenfenster seines Autos und die Erleichterung um alle seine Wertgegenstände, die sich darin befunden hatten. «Plötzlich war ich mitten in einer Stadt, die von einem kriminellen Mafioso regiert wurde», so erzählt Martin ehrfürchtig. Die Temple University in Philadelphia lag genau in dem Stadtviertel, das mit abgebrannten Häusern am stärksten runtergekommen war. «Ich musste mir dann einfach vergegenwärtigen, dass ich jetzt im Minimum zwei Jahre hier leben würde.» Am Schluss wurden es sogar noch drei Jahre mehr. Mit der Zeit lernte Martin, auch die Besonderheiten dieser Stadt zu schätzen. Der Italian Market unter freiem Himmel war sein Lieblingsplatz. In der kalten Jahreszeit brannten in den vielen Mülltonnen Feuer, und spendeten Martins Händen und dem ganzen Stadtviertel etwas Wärme.

Mit dem Oldtimer über den Julierpass und Bob Marley in den Ohren. Martin lebt für Innovation, weiss aber auch analoge Qualitäten zu schätzen.

Martins Staatsstreich

Bald nach seinem Master folgte Martins erstes «Interneterlebnis» – die Entwicklung einer Zeitungswebsite in Honduras. Für ein Beratungsunternehmen in New York tätig, begleitete er Zeitungsverlage in Lateinamerika in ihrer digitalen Transformation. Ziel seiner Mission in Honduras: Der diplomatische Dienst sollte weltweit übers Internet die nationalen Zeitungen lesen können. In Honduras hatten damals noch nicht mal 10 Prozent der Haushalte ein Telefon. Das Consulting verlief ganz im Stil von einemZeugenschutzprogramm für einen Kronzeugen. Wie im Film landeten Martin und sein Assistent per Helikopter auf dem Dach des Zeitungsunternehmens in Honduras oder fuhren in einem schwarzen Suburban mit getönten Scheiben unter Begleitung von bewaffneten israelischen Bodyguards direkt vor den Eingang.

Die Tätigkeit erforderte die Zusammenarbeit mit der nationalen Telekom Hondutel, die vom Militär verwaltetet wurde. So wurde Martin im Ministerium in der Hauptstadt von den für Hondutel verantwortlichen Offizieren begrüsst. Diese verstanden kaum etwas von Telekommunikation, ganz zu schweigen von Internet, wie Martin seine Einschätzung beim Auftraggeber rapportierte. Einige Tage später waren die Militärs nicht mehr zuständig. Die Tatsache, dass auf Martins Empfehlung die verantwortlichen Offiziere abgesetzt wurden, sorgte bei ihm und seiner Assistenz für ein ziemlich mulmiges Gefühl. «Wir bewegten uns nur noch vom Hotel zur Zeitung und wieder zurück, immer in Begleitung unserer Bodyguards.» Erst als das Flugzeug abhob und Richtung Amerika flog, atmeten die beiden wieder auf.

«Heutzutage hat es dennoch jeder in der Hand – ein kleines Kunstwerk in Form eines Smartphones. So gewinnt das Digitale erst dort an Bedeutung, wo es der Mensch in der analogen Welt nutzt. »

www – wann, wie und warum?

Wollte Coca-Cola eine nationale Kampagne in den über 800 Zeitungen der USA schalten, war das Anfang der 1990er nicht einfach so möglich. Es fehlte an einem Planungs- und Buchungssystem, über welches Coca- Cola gedruckte Zeitungswerbung national planen und buchen konnte.

«Entwicklung Neuer Medien» – so hiess die Abteilung der in New York ansässigen Editor & Publisher Company, für die Martin in seinem zweiten Job tätig war und wo er das Ziel hatte, die Vision eines Planungs- und Buchungssystems Wirklichkeit werden zu lassen. Man bediente sich am Vorbild einer der ersten Online- Trading-Plattformen, entwickelt von ehemaligen NASA Mitarbeitern in Houston, die es einem ermöglichten, Aktien mit einer Analyse zu bewerten. Bevor man über den heute bekannten Internetbrowser Zugang zum World Wide Web hatte, arbeitete man jedoch mit einem sogenannten BBS – Bulletin Board System. Zu diesem Zeitpunkt wurde das Internet primär vom Militär und von akademischen Institutionen genutzt.

Martin und sein Team entwickelten in der Folge ein Programm, welches Agenturen über das Internet die nationale Planung von Kampagnen in Zeitungen aufgrund von demografischen und wirtschaftlichen Daten ermöglichte. «Die Resonanz war riesig. Der Umstand, dass man nun über ein System theoretisch in über 100 Printzeitungen parallel national werben konnte, begeisterte alle», erinnert sich Martin an die Rückmeldungen der vielen Agenturen und Zeitungen, die er während der zwei Jahre langen Testphase in ganz Amerika besucht hatte.

1994 kam der grosse Knall: Das Internet wurde öffentlich und praktisch über Nacht wurde der Netscape Mosaic Browser lanciert. Plötzlich konnten Internetinhalte auf ganz einfache Weise grafisch dargestellt werden und das Internet wurde zum World Wide Web. Möglich machte das eine einfache Art zu programmieren: mit einigen simplen HTML Codes konnten Inhalte auf dem Browser grafisch dargestellt werden. Das führte dazu, dass Martin und sein Team ihr aufwändiges Programm sofort beerdigten. Das Resultat von zwei Jahren Entwicklungsarbeit war über Nacht veraltet. In den folgenden zwei Monaten wurde aus dem aufwändigen Planungssystem eine leicht zu nutzende Website.

Das Werbebanner erblickt das Licht der Welt

«Hallo Welt!» – plötzlich gingen alle Zeitungen online. Für diese musste innert Kürze ein neues Finanzierungsmodell her. Martin, an vorderster Front, entwickelte mit seiner eigenen Firma ein aus heutiger Sicht simples Programm. Dieses analysierte die Zeitungswebsite und suchte nach Textabsätzen. Fand es einen bestimmten, wurde dort ein Banner geschaltet. Das Interesse des Werbevermittlers Publicitas geweckt, wechselte Martin in deren Multimedia Entwicklung und war von da an verantwortlich für den Technologietransfer von New York nach Europa. Daraus erfolgte der Aufbau eines globalen Vermarkters von Internet Werbung mit Ambitionen eines Börsengangs, der mit der Internetblase 2000 implodierte. Nach über 20 Jahren in den USA transferierte Martin alsbald auch seinen Wohn- und Arbeitsort. Ein Angebot der Schweizer Werbeagentur Wirz landete bei ihm auf dem Tisch.

Analoge Zeichen transcodieren

Zwei Ereignisse trugen zur Entscheidung bei, in die Schweiz zurückzukehren. Martin buchte für ein Meeting in der Schweiz einen Flug von New York nach Zürich, statt wie sonst immer über Genf zu fliegen. Kurz nach der Landung der Schock: Die Swissair Maschine, die am gleichen Tag Genf anflog, war über Halifax abgestürzt. «Meine Mutter hatte mich nicht mehr erwartet», äussert Martin nachdenklich. Während seines Aufenthalts in der Schweiz nahm in New York ein weiteres Ereignis seinen Lauf: Seine Wohnung in Brooklyn brannte nieder. Zwei Zeichen, die für Martin nicht deutlicher sein konnten.

Mit seiner Frau bezog er ein kleines Atelier in der Zürcher Altstadt und tauschte das turbulente Partyleben der Grossstadt New York gegen einen ruhigeren Alltag ein. «Die illegalen Partys in den industriellen Lofts, die eine Spur von Mad Man hatten, gehörten nun definitiv der Vergangenheit an», so beschreibt Martin schmunzelnd.

Das nächste Grossprojekt liess nicht lange auf sich warten: Im Juni 2000 gründete Martin die Schweizer Niederlassung des deutschen Onlinemarketing- Unternehmens AdLINK Internet Media AG, woran sich die Tamedia AG beteiligte. Martins Erfahrung auf dem amerikanischen Markt brachte ihm die Exklusivvermarktung der Websites der damaligen Tagesanzeiger AG sowie vom Mailservice GMX ein. Ihm verdanken viele Schweizer ihre erste E-Mail- Adresse. Die Firma wuchs schnell zum grössten Online-Werbevermarkter der Schweiz und 2004 Teil von Goldbach Media AG.

Das Zauberwort Innovation

«Sie erkennt Bedürfnisse, deckt Ineffizienzen und mangelnde Zusammenhänge auf und versucht mit einer entsprechenden Idee und in der Regel mit Technologie, die Problematik zu adressieren. Daraus resultiert eine Lösung, die Wert stiftet.» Das ist Martins Definition von Innovation, seinem Antrieb. «Es sind die schönsten Momente, wenn man durch den Innovationsprozess etwas Nutzvolles im Markt etablieren kann», bekräftigt Martin.

Gerade die Schweiz hält Martin für eine spannende Plattform, die vor allem im Bereich der Entwicklung neuer Mobilität noch viel Potential hätte.

«Ich hätte gerne dasselbe Gefühl wie in Singapur bezüglich urbaner Planung», so malt Martin seine Vision aus. Ein flächendeckendes Ladenetzwerk, das stringent durchorganisiert ist, und ein Mietmodell mit Elektroauto schweben ihm da vor. Dass die Entwicklungen hier so langsam voranschreiten, verbindet Martin damit, dass die individuelle Mobilität lange negativ behaftet wurde. Die Schweiz wäre mit ihren zahlreichen Kurzstrecken prädestiniert dafür, eine Vorreiterrolle im Bereich der neuen Mobilität zu spielen.

Gibt es für Martin auch Dinge, die blieben sollen? «Es gibt wahnsinnig viele Bereiche, in welchen Innovation nicht unbedingt notwendig ist. Ein Grund, weshalb ich gerne in die Toskana gehe, ist, weil die italienische Küche seit hunderten von Jahren gleich fantastisch schmeckt.»

Die digitalen Picassos

Martin sammelt gerne Kommunikationsgeräte vergangener Zeiten. So beispielsweise den Ediphone Voicewriter von 1927 – ein Diktiergerät, das seine Informationen auf einer Wachsdrehschreibe speichert. Am Gerät fasziniert ihn die analoge Handwerkskunst – die pure Mechanik, mit der es funktioniert. Thomas Edison setzte auf dieses Gerät nicht zuletzt, weil er glaubte, dass das Grammophon nie in der Lage sein würde, die Musik in der notwendigen Qualität abzuspielen. Das Diktaphone aber konnte eine Stimme funktional aufzeichnen und sie wiedergeben. Ein wunderbares Beispiel wie unvorhersehbar Entwicklungen sein können.

Zum Abschluss wird Martin philosophisch: «Kunst gibt es auch im digitalen Wandel. Die modernen Exponate der digitalen Welt finden sich heute im Programmiercode oder in einem Mikrochip mit Milliarden von Schaltungen. Wettbewerbe in San Francisco, welche die optische Ästhetik des Codes bewerten, sind Beweis genug. Durch die Miniaturisierung entziehen sich diese höchst kreativen Prozesse unserem Sichtfeld. Heutzutage hat es dennoch jeder in der Hand – ein kleines Kunstwerk in Form eines Smartphones. So gewinnt das Digitale erst dort an Bedeutung, wo es der Mensch in der analogen Welt nutzt.»