Ein Geschenk des Meeres

Im Alter von fünf transportierte er Frachtgut in einer Nussschale, mit 23 trat er als jüngster Mann in der Geschichte die legendäre Weltumseglung Vendée Globe an.

Vom heimischen Genfer See in die tosenden Weltmeere

An einem mystischen Herbstmorgen fahren wir mit Alans Boot aus dem Genfer Hafen Port-Noir und nach wenigen gezielten Griffen des Profiseglers füllen sich die weissen Segel mit Wind. Was sich für uns bereits jetzt schon ereignisreich anfühlt, ist nicht vergleichbar mit den Abenteuern, die Alan auf den tiefblauen Weltmeeren erlebt. Bei über acht Meter hohen Wellen und stürmischer See segelt er monatelang alleine, um ohne Zwischenstopp die Welt zu umkreisen. Auf dem beschaulichen Genfersee ist Alan nun völlig entspannt. Hier muss er keine Angst haben – etwa vor schwimmenden Containern, die mit seinem Boot kollidieren könnten.

Auf dem See, den Blick in Richtung der multikulturellen und temperamentvollen Stadt Genf gerichtet, lauschen wir dem Wind in den Segeln und geniessen die sonstige Ruhe. Alan beschreibt seine Heimatstadt als einen Ort, an welchem viele Entscheidungen internationaler Bedeutung getroffen werden. Auch für sein Leben ist dieser Breitengrad wegweisend. «Die Menschen halten mich ein bisschen für verrückt», meint der junge Mann mit seinem herzhaften Lachen. Seine Leidenschaft fürs Segeln und seine positive Lebenseinstellung sind förmlich spürbar. «Ein Leben ohne Boot kann ich mir nicht vorstellen», sagt der Seefahrer und erzählt von seinen schwimmenden Lebensgefährten.

Alan Roura, 27, war bereits schon zweimal der jüngste Teilnehmer am weltweit härtesten Ein-Mann- Segelrennen Vendée Globe. In 80 Tagen um die Welt ist für ihn kein Roman, der verstaubt im Bücherregal steht, sondern sein Lebensinhalt. Aufgewachsen im Seehafen der internationalen Stadt Genf, bereist der Schweizer heute die Meere.
Hausarbeit bei Familie Roura: Der fünfjährige Alan transportierte die Wäsche via Ruderboot in diesen Waschsalon.

Der sichere Hafen

Wo sich Backbord und Steuerbord befinden, wusste der kleine Alan noch bevor er links und rechts unterscheiden konnte. Sein Kinderzimmer war das Oberdeck des kleinen Hausbootes L’Almyr, dessen Name aus einer Kombination seines Vornamens (Al) und des Vornamens seiner Mutter Myriam (Myr) entstand. In Genf, am Hafen Port-Noir, teilte sich die fünfköpfige Familie Roura das Zuhause auf dem Wasser ohne grossen Luxus – also ohne Dusche und Elektrizität. Alan schätzt es heute ganz besonders, dass er so aufwachsen durfte und erinnert sich gerne daran zurück. So waren Alan und seine Geschwister für die Reinigung der Wäsche zuständig. Da keine Waschmaschine an Bord war, wurde der Wäschekorb in ein kleines Ruderboot gehievt und durch den Kanal des Genfer Hafens bis zur Anlegestelle bei der berühmten Wasserfontäne gerudert. Wenn die Tröpfchen des Wasserstrahls zu spüren waren, war man am Ziel. Das «Frachtgut» wurde an Land gehoben und ins «Centre des Eaux Vives» in die Wäscherei getragen. Eine bleibende Erinnerung, die Alan heute noch ein Lächeln ins Gesicht zaubert.

Boote sind immer noch sein Zuhause, wenn er nicht gerade mit seiner Frau und seiner Tochter die wenigen freien Tage in einem kleinen Haus in der Bretagne verbringt oder seine Familie und Freude besucht, die immer noch in seiner Heimatstadt Genf wohnen. Die Ankunft am Hafen Port-Noir ist für Alan jeweils eine Art Heimkehr. Dort leben und arbeiten seine nächsten Freunde, und so besucht er Boot um Boot. Bei einem Kaffee an Bord wird im Seefahrer-Jargon über ein Objekt der Begierde gefachsimpelt. Auch dem alten Kutter L’Almyr wird ein Besuch abgestattet. Dort treffen wir auf den freundlichen Senior, der heute die Tradition der Familie Roura weiterlebt und sich gerade eine Dusche gönnt – mit anderen Worten sein tägliches Morgenbad im Genfersee bei 10 Grad Wassertemperatur. Für echte Seebären kein Problem – auch bei Aussentemperaturen unter null. Nicht fehlen darf ein Stopp bei Alans Freunden der Bootsvermietung «Les Corsaires», einem blauen Häuschen mit gelben Pedalos direkt beim Wahrzeichen von Genf. Dieser Ort ist in der Zeit stehengeblieben. Seit Alans Kindheit steht das Gebäude an der Seepromenade und bildet einen Kontrast zu der sich stetig verändernden Stadt.

L ́Almyr: Alans erstes Zuhause schwimmt im Port-Noir in Genf und dient heute noch als Hausboot.

Leinen los und viereinhalb Mal um die Welt

Alan ist acht, als die Familie Roura ihr liebgewonnenes Zuhause in Genf verlässt und in ihr grösstes Abenteuer startet. «Ludmila» heisst das neue schwimmende Zuhause. Alan verrät, dass er diesen russischen Namen des Schiffes ganz besonders mochte. Das in Genf gekaufte Boot wird per Lastwagen nach Frankreich transportiert und so sticht die Familie 2001 ins Mittelmeer mit dem Ziel, die ganze Welt zu entdecken. Mit dem 13 Meter langen Segelboot werden während elf Jahren über 100’000 Seemeilen zurückgelegt. Ursprünglich war dieses Ausmass nicht geplant. Und wären die Rouras 20 Jahre später unterwegs gewesen, hätte man ihre Reise wohl auf Instagram verfolgen können. Die Geschichten von damals aber können nur von der Familie selbst erzählt werden, wie es sich für waschechte Abenteuergeschichten auch gehört. Alan setzte auf dieser Reise zwei besondere Kreuze auf seine mentale Seefahrerkarte – es sind die Breiten- und Längengrade seiner Lieblingsorte. Zum einen die Bay of Islands im Norden von Neuseeland und zum anderen die wilde und wenig besiedelte Insel Tonga im Südpazifik. Alan lernte alles auf dem Wasser, ob Rechnen oder Seemannsknoten – die Schule besuchte er in dieser Zeit nie. Länder und Völker auf der ganzen Welt zu besuchen, brachte ihm zusätzliche Sprachen und Kulturen näher. «Ich hatte das Privileg, die schönsten Ecken der Welt zu entdecken und dort zu leben!», resümiert Alan zufrieden.

Auf den unendlichen Weiten der Weltmeere ist auch sein Wunsch entstanden, einmal Profisegler zu werden. Mit 13 Jahren startete Alan in die Berufswelt und leistete damit seinen Beitrag, dass sich Familie Roura auch finanziell über Wasser halten konnte. Gemeinsam mit seinem Vater betätigte er sich als Mitarbeiter bei der Konstruktion von Hafengebäuden und setzte seine Muskelkraft sogar bei einem Bau eines Palastes in der Karibik ein. Kenntnisse im Bootsbau, die später von besonderer Bedeutung sein würden, eignete sich der junge Mann bei der Arbeit in verschiedenen Werften an. Alans Vater bestärkte ihn in seinen Träumen – von ihm hat er die Courage und das Selbstvertrauen geerbt, das Abenteuer als Profisegler zu wagen. Mit dem Traum, bald ein eigenes Boot zu besitzen, füllte Alan mit Bedacht seine Spardose in der Koje.

Der geheimnisvolle Name des ersten Bootes

Beim seefahrenden Volk ist man sich einig: Der Name, auf den man ein Boot tauft, wird nicht geändert! Man glaubt, dass der Name des Bootes eine besondere Bedeutung hat – oft hängt er mit der Geschichte des Bootes zusammen. «Gift» – englisch für Geschenk – hiess Alans allererstes eigenes Boot, und es war ganz im Sinne des Namens ein Geschenk. Für längere Zeit war Alans Familie mit ihrem Boot in den Kleinen Antillen, einer Inselgruppe in der Karibik, unterwegs. Auf der südlichsten Insel Grenada wartete Alans Geschenk auf ihn, eine «Mini 6.50», das kleinste Offshore Rennboot. Seine «Gift» war alleine auf der See getrieben und wurde eines Tages am Ufer angeschwemmt – sozusagen ein Geschenk des

Meeres. Von den Fischern der Insel wurde sie behutsam an Land gehoben und Alan war der stolze Käufer. Sein Boot renovierte er gleich selbst und entdeckte mit ihm in den darauffolgenden Jahren die Leidenschaft für die Regatta bei zahlreichen Rennen in der Karibik und rund um Neuseeland.

Für immer auf dem Wasser zuhause. Alan kann sich ein Leben nur auf dem Festland nicht mehr vorstellen.

Karriere droht zu kentern

Mit 18 Jahren betritt Alan mit seinem Yacht- Master, dem Diplom des internationalen Skippers, zum ersten Mal wieder europäischen Boden. «Navman», Alans zweites Boot, soll sein neuer Begleiter werden. Mit ihm möchte er die ersten bekannten Regatten bestreiten. Bis es so weit ist, warten noch viele Arbeitsstunden auf Alan. Das Boot, komplett aus Holz, ist in schlechtem Zustand. Während seine Familie sich in Genf niederlässt, bestreitet Alan sein erstes Rennen und nimmt am Trophée MAP in der Bretagne teil. Während des zweiten Wettkampfs am Mini-Fastnet bricht der Mast und er muss wortwörtlich «die Segel streichen».

On-site repairs were too expensive for the young sailor, so Navman was shipped to Geneva, Switzerland. In order to scrape together the necessary money for the preparation, Alan repaired equipment in various fitness studios. At the start of the Mini Transat, one of the most challenging transatlantic races for this category of vessel, Navman was fully operational again, but there was hardly any time for training. «In order to save money, during the preparations in France I slept in my small car, a Renault Twingo,» says Alan with a laugh. 

Die Reparatur vor Ort ist zu kostspielig für die Kasse des jungen Seglers, und so wird «Navman» in die Schweiz nach Genf verfrachtet. Um das nötige Geld für die Vorbereitung zusammenzukratzen, repariert Alain Geräte in verschiedensten Fitnessstudios. Zum Start des «Mini Transat», einem der schwierigsten Transatlantikrennen dieser Schiffskategorie, ist «Navman» wieder voll einsatzfähig, doch es bleibt kaum Zeit für Training. «Um Geld zu sparen, übernachtete ich während den Vorbereitungen in Frankreich in meinem kleinen Auto, einem Renault Twingo», blickt Alan lachend zurück.

2013 startet Alan sein erstes transatlantisches Solo-Rennen mit dem, im Vergleich zu den 30 anderen Teilnehmern, ältesten Boot und niedrigsten Budget. Über mehrere Tage ist er alleine an Bord ohne jegliche Kommunikationsmöglichkeit, um das Wetter abzurufen und ohne über den Fortschritt der Regatta informiert zu werden. Alan segelt unbeirrt mit seinem Ziel vor Augen weiter. Schlussendlich erreicht er als jüngster Teilnehmer den stolzen 11. Platz.

Mit einem weiteren Boot namens Exocet, «der fliegende Fisch», steckt er sich hohe Ziele und startet das erste Mal an Regatten der «Class 40», den 12,2 Meter langen Booten. «Mit Exocet hatte ich etwas Ärger, aber nach vielen anstrengenden Stunden haben wir uns verstanden», erklärt Alan, der Bootsflüsterer, grinsend. Die «Route du Rhum» musste er 2014 aufgrund von Beschädigungen nach einem Sturm abrechen, bevor er ein Jahr später auf dem zehnten Platz an der doppelten Transatlantik Regatta, der «Transat Jacques Vabre», mit Exocet über die Ziellinie fliegt.

Über drei Monate mit 50-60 km/h und ganz alleine über den rauen Ozean: Die Vendée Globe 2016 hat Alan als jüngster Teilnehmer der Geschichte gemeistert.

Die Abenteuer von Superbigou

Mit 23 Jahren sticht Alan Ende 2016 als jüngster Segler in der Geschichte der Non-Stop-Regatta Vendée Globe, bekannt als Everest der Meere, in die See. Seine «Superbigou» ist eines der ältesten Boote aller 29 Bestreiter des Wettkampfes. Das neuste Boot von Alan, eine beinahe 20-jährige «Imoca 60», beeindruckt mit einer Länge von 18.28 Metern und den grossen weissen Segeln. Es sieht fast so aus wie die robuste bretonische Superheldin «Superbigou» mit weissem Damenhäubchen, über deren Abenteuer ein französisches Comicheft berichtet und von welcher es seinen Namen trägt. Am Sonntag, dem 6. November 2016, startet das Rennen an der französischen Atlantikküste und führt entlang des Südpolarmeers einmal um den Globus. Die Geschichte zeigt, dass über die Hälfte der Wettkampfteilnehmer es nicht ins Ziel schaffen werden.

Das härteste Segelrennen rund um die Welt lässt auch Alan einen seiner schwierigsten Momente erleben. Mitten im Indischen Ozean, bei über acht Meter hohen Wellen und Windböen, die mit über 100 km/h über das Meer fegen, reisst ihm ein schwimmendes Objekt sein Ruder ab. Kurz drauf läuft Wasser ins Boot. Wird Alan nun mit seiner malträtierten «Superbigou» irgendwo im Süden stranden? «Ich hatte Angst», gibt er zu. Die Reparatur eines Ruders sei schon auf Land kompliziert genug, das Gleiche nun auf stürmischer See durchzuführen, schien praktisch aussichtlos. «Aber wenn du den Ozean respektierst, dann respektiert er auch dich. Das setzt dich frei», meint Alan, als hätte er damals einen Pakt mit dem Meer geschlossen. Er reparierte das Boot in drei Stunden. «Manchmal macht sich eine Kraft in einem breit, mit der man Unmögliches schafft», erzählt Alan mit Ehrfurcht weiter. Nach 105 Tagen alleine auf See erblickte er letztlich die französische Küste am Horizont – Alan hatte es geschafft. So werden aus

Prüfungen wie dieser positive Erinnerungen. «Es ist eine der schönsten Geschichten des Meeres, die ich heute zu erzählen habe.»

Auf dem Genfersee füllt der Wind die Segel und Alan kommt zur Ruhe. Das heimische Gewässer bietet ihm während den Vorbereitungen für die nächste Regatta auf den Weltmeeren eine kurze Verschnaufpause.

Das Meer ruft

Das Jahr 2020 brachte einige Neuigkeiten: Alan wurde stolzer Vater einer Tochter und Besitzer des neuen Bootes «La Fabrique». Gleichzeitig starteten die Vorbereitungen für die nach vier Jahren wiederkehrende Vendée Globe. Die kurzen Nächte mit einem Kleinkind waren dabei sicherlich hilfreich, denn an Bord erwarteten Alan während drei Monatenmaximal zwei Stunden Schlaf am Stück. Auch die Mahlzeiten fielen, ähnlich wie die seiner Tochter, nicht wirklich abwechslungsreich aus. Gefriergetrocknete Nahrung stand auf seinem Speiseplan. Ohne Dusche und Heizung musste Alan auf Komfort verzichten. «Ich lebe in einer Kiste, die viel Lärm macht, sehr schnell ist und in der es überall feucht ist», meinte Alan vor dem Start am 8. November schmunzelnd. Unterwegs auf dem offenen Meer nahm Alan einen Tag nach dem anderen, ging auf die Befindlichkeiten seiner «La Fabrique», das Wetter und das Meer ein und spürte ganz besonders dort sein «wahres Ich». Nach vielen Zwischenfällen und nicht weniger als 95 Tagen auf hoher See konnte der passionierte Segler am 11. Februar 2021 seine Familie wieder in die Arme schliessen.