Das Fenster zur Welt

Wie das Tessin zu einer prägenden Plattform des Kulturaustauschs wurde und weshalb Raubkatzen in Locarno eine Heimat fanden.

Von identitätsstiftenden Krafttieren zu inneren Kraftorten

Seit 1946 wird Locarno, die kleine Stadt am Lago Maggiore, jedes Jahr zu einer Welthauptstadt des Autorenfilms und zieht weit mehr als 100’000 Zuschauer an. Über die Pflastersteine der Piazza Grande flimmert dann während 11 Tagen das internationale Film- Programm des Locarno Film Festivals. Damit zählt es weltweit zu den renommiertesten Filmfestivals und legt die Messlatte hoch. Neue Errungenschaften werden zum Qualitätsstandard und Innovation ist gefragt. Wie man mit neuen Ideen überraschen, das Festival verbessern und die Relevanz in unserer fragmentierten Gesellschaft behalten kann – dieser Herausforderung stellt sich Raphaël Brunschwig in Zusammenarbeit mit dem Präsidenten Marco Solari und dem künstlerischen Leiter Giona A. Nazzaro gerne. Das Ziel ist klar: sich in den Leitplanken der Tradition immer wieder zu erneuern und das Publikum zu überraschen. Immer darum bemüht um ein Projekt, welches eine bedeutende Geschichte und eine tiefe Verankerung in der Region, im Land und eine Ausstrahlung in die Welt hat, sieht Raphaël viel Potential für die Zukunft.

Raphaël Brunschwig, 36, öffnet als operativer Leiter des Locarno Film Festivals gemeinsam mit dem Präsidenten Marco Solari und dem künstlerischen Leiter Giona A. Nazzaro jeden Sommer das Fenster zur Welt mit Filmen, die den Zeitgeist treffen.
Eines der ältesten Filmfestivals lädt seit 1946 jeden Sommer auf der Piazza Grande ein, in die Welt des Autorenfilms einzutauchen.

Auf den Spuren des Leoparden

Die Farben Gelb und Schwarz in der Gestalt des Leoparden sind im Auftritt des Festivals nicht mehr wegzudenken und wecken in unseren Breitengraden Vorfreude: Das Filmfestival in Locarno steht an. Das war nicht immer so. Vor 50 Jahren wurde in Locarno noch das Goldene Segel verliehen. Daraufhin erhielt der Künstler Remo Rossi den Auftrag, ein neues Symbol zu finden. Der Löwe auf dem Wappen von Locarno wurde zu einem mythologischen Leoparden umgedeutet, da Venedig bereits den Goldenen Löwen verlieh. Und so prägt das markante gepunktete Krafttier das Festival seit dieser Zeit.

So selbstverständlich es heute auch scheint, dass das Festival auf der Piazza Grande stattfindet, die heute gar unsere 20er-Note ziert, so wurde dies seinerzeit eher in einer Nacht- und Nebelaktion und praktisch ohne Erlaubnis lanciert. Da man im Grand Hotel keine Vorführungen mehr machen konnte und sich auch die Kinosäle nicht eigneten, hatte man sich diese Aktion erlaubt. Und so etablierte sich das Open- Air-Feeling zu einem prägenden Erkennungsmerkmal des Festivals, auch wenn es aus Zufall und aus der Not heraus entstanden war.

Unter Strom

Im Kern eine introvertierte Persönlichkeit, hat Raphaël in seiner Tätigkeit als operativer Leiter des Festivals täglich mit einer extrovertierten Aufgabe zu tun. Mit dem Prädikat: «Langsam taugt er was», wurde er seinem Vorgänger empfohlen. Raphaël konnte schon immer vor allem eines gut: Menschen und Situationen lesen. Die wichtigste Eigenschaft, welche der anfängliche Sponsoring-Koordinator innehaben muss. In kurzer Zeit muss Raphaël entscheiden, welche Priorität und Sensibilität er einer gegebenen Situation gegenüberbringen soll. Die Bedürfnisse des Partners verstehen, wissen, welche Werte und Themen dieser als Institution repräsentiert, die Parallelen zum Filmfestival finden und sie in der Zusammenarbeit optimal repräsentieren – das hatte Raphaël von Anfang an im Blut. So galt es auch, die langjährige Partnerschaft mit Hertz, das als stolzer Partner das Festival in den stressigen Sommermonaten unterstützt, zu vertiefen und auszubauen. Das Vertrauen seiner Vorgesetzten in seine Fähigkeiten liess ihn binnen weniger Jahre zur heutigen Position gelangen.

Als Andenken und Glücksbringer ziert sein Büro eine dreipolige Starkstromsteckdose, die ihm von seinem Vorgänger überreicht wurde. Diese war einst der Grund für einen Kurzschluss an einem Prefestival-Abend und sorgte für einen 45-minütigen Stromausfall. Beinahe das gesamte Publikum blieb sitzen und wartete geduldig darauf, dass der Film über die Leinwand flimmerte. Die Gunst des Publikums soll dank dieses «Glücksbringers» auch seiner Arbeit zuteilwerden.

Rückblickend konnte Raphaël während seines Werdegangs seine Komfortzone immer wieder in einer gesunden Art und Weise verlassen und in seine Verantwortung reinwachsen. Raphaëls Philosophie dabei: Sich selbst nicht zu verleugnen. Genug Zeit für sich selbst zu haben, sei vor allem als introvertierte Persönlichkeit wichtig. So tankt Raphaël Kraft, um all seine Verantwortlichkeiten, als Ehemann, Vater und operativer Leiter des Festivals, und damit auch die anstrengenden Alltagsangelegenheiten zu meistern.

Die Rituale, welche er heute selbstverständlich lebt, sind Resultat von einer intensiven Reise. Raphaël steht täglich um 5 Uhr morgens auf, schreibt seine Träume auf, führt sein Tagebuch und meditiert. Nach einer sportlichen Aktivität isst er mit seiner Frau Frühstück und startet seine Arbeit um 7.30 Uhr im Büro. Ob er das auch während der intensiven Zeit des Festivals so durchzieht? Darauf meint Raphaël lachend: «Es wird jedes Jahr besser.» Das Adrenalin mache ihm jeweils einen Strich durch die Rechnung. Während des Festivals taucht er in eine andere Welt ein – mit neuen Prioritäten, Spielregeln und im Wettlauf gegen die Zeit.

Raphaëls Glücksbringer – die dreipolige Starkstromsteckdose hatte einen grossen Auftritt und soll in Zukunft filmreife Dramen und Pannen verhindern.

Vorhang auf für kleine und grosse Dramen

«Ein Tag scheint wie eine Woche und eine Woche wie drei Jahre», so beschreibt Raphaël sein Zeitgefühl rund um das elftägige Filmfestival. Wenn er im September auf das Festival zurückblickt, sei es verblüffend, was in dieser kurzen Zeit machbar gewesen ist. Um das Ausmass zu verdeutlichen: Raphaël erreichen an einem Tag unzählige Anrufe und Hunderte von Mails und er ist für fast 1000 Mitarbeitende verantwortlich. Als Co-Regisseur des Festivals versucht er kleine und grosse Dramen immer ganz pragmatisch zu lösen.

Ein Festival in dieser Grösse zu organisieren, sei fast wie eine Droge. In dieser Intensität verliere man sich beinahe selbst. Das habe aber durchaus etwas Positives, meint Raphaël: «Man verliert sein limitiertes Ich und arbeitet gemeinsam für etwas Grösseres.» Dass nach dem Event eine «Post-Festival-Depression» folgt, ist gut nachvollziehbar. Raphaël findet seinen Umgang damit, indem er Zeit mit seiner Familie verbringt. Eine Erfrischung im glasklaren Wasser der Maggia mit den beeindruckenden Steinformationen lässt die Last der letzten Monate abwaschen. Das Vallemaggia lädt zum Verweilen ein, sei es bei einer traditionellen Polenta in einem Grotto oder beimSchlendern durch Tessiner Stein-Dörfchen, welches jedes für sich seine ganz eigene Magie entfaltet.

In einem anderen Kosmos: Mitten im Maggiatal reflektiert Raphaël gerne über die menschliche Existenz. Im Tessin finden sich zahlreiche Kraftorte, an denen Raphaël seine Seele baumeln lässt.

Ein Ort mit besonderer Magie

Die Gegend um Ascona war schon vor der Etablierung des Filmfestivals Treffpunkt von Lebensreformern, Künstlern, Schriftstellern sowie Anhängern unterschiedlicher alternativer Bewegungen. Auf dem Monte Verità, oberhalb von Ascona, fanden viele wichtige Texte, welche Raphaël in seinen jungen Jahren gelesen hat und die seinen Werdegang geprägt haben, ihren Ursprung.

In den jungen Jahren als Erwachsener lebte Raphaël in seinem eigenen Kosmos. Er verbrachte gar einige Zeit ganz von der Aussenwelt abgeschnitten und befasste sich mit viel Literatur der Philosophie. Die Sinnfrage trieb ihn an: Raphaël wollte seinen eigenen Bildungsroman schreiben und möglichst viele experimentelle Erfahrungen sammeln. Seine zufällige Zuwendung zur Mediation liess diese persönliche Reise enden und zeigt sich in seiner Versöhnung mit der Aussenwelt.

Monte Verità ist für ihn über all die Jahre ein Kraftort geblieben, wo er sich mit seiner Innenwelt auseinandersetzen kann und im Garten die Seele baumeln lässt. Hier schliesst sich für Raphaël der Kreis: Die künstlerische Freiheit in dieser Region hat für ihn auch mit dem Festival zu tun. Es sei kein Zufall, dass genau hier ein Festival von internationaler Bedeutung entstand, das im Vergleich zu anderen Filmfestivals unabhängig ist. Mit seiner offenen und ehrlichen Art und Weise biete das Locarno Film Festival ein Programm, das dem Publikum unser gesellschaftliches Handeln auf eine ganz besondere Form widerspiegle.

Potential ausschöpfen – Tradition bewahren

Es sei ein Privileg, für ein Projekt zu arbeiten, in das schon Tausende von Menschen investiert haben, meint Raphaël bedächtig. Unter der Präsidentschaft von Marco Solari haben die Tatzen des Film-Leoparden seine Spuren hinterlassen. Das starke Wachstum kennt aber seine Grenzen: Die Anzahl Plätze im Kinosaal, in den Hotels und auf der Piazza sind ausgeschöpft. Doch wie kann man dem Festival gesamtjährlich zur mehr Präsenz verhelfen und einen weiteren Mehrwert für Filmemacher, Zuschauer und Partner generieren? Dieser Aufgabe stellt sich Raphaël und widmet sich vor allem einem Aspekt: der Digitalisierung. Mit ihr soll die Magie von den elf Tagen übers Jahr ausgebreitetwerden. Mit digitalen Projekten wie Locarno Kids und Locarno Shorts Weeks werden erste Plattformen etabliert und so lebt die kuratorische Arbeit des Filmfestivals online weiter.

Einfach nur Mensch

Für Raphaël ist Film eine der spannendsten Kunstformen, mit welcher man das Geschehen unserer Zeit und der menschlichen Existenz festhalten und reflektieren kann. Es sei eine bedeutsame Aufgabe, mit dem Festival eine Plattform für Autorenfilme zu kreieren, die dem Publikum in unserer heutigen Medienwelt schwieriger zugänglich sind. Während auf bekannten Streaming-Plattformen Algorithmen Filme vorschlagen, stellt das künstlerische Team vom Locarno Film Festival ein Filmprogramm mit zeitgenössisch relevanten Werken aus aller Welt zusammen. Der Fokus des Festivals ist klar: Neugierigen Zuschauern soll eine Plattform für neue Erfahrungen geboten werden. Denn schliesslich geht es im Kern immer um Kreation von sich selbst. Auch wenn nicht jeder seinen eigenen Film dreht, bleibt da der Wunsch, sich selbst zu reflektieren. Und genau dies ermöglicht das Locarno Film Festival – mit seinen Werten von Offenheit und Unabhängigkeit bietet es eine Plattform für die Auseinandersetzung mit dem eigenen Menschsein.